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Streaming Dienste: Die ganze Welt der Musik?

Die ganze Welt der Musik – so präsentieren sich die großen Streaming-Anbieter in der Öffentlichkeit. Von diesem Anspruch aber sind sie in Wahrheit weit entfernt. Nur ein Bruchteil aller jemals aufgenommenen Musik wurde digitalisiert. Werden wir sie jemals zu hören bekommen?

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Die Bibliothek von Alexandria ist längst Geschichte. Bis heute aber verkörpert sie ein Ideal: Alle Werke der Welt an einem einzigen Ort zu sammeln, zu organisieren und verfügbar zu machen. Noch ist dieses Ideal genau das: Ein Traum. Denn eine Universalbibliothek für Sach- und Fachbücher gibt es bis heute noch nicht. Immerhin steht uns, Streaming sei Dank, die gesamte Welt der Musik zur Verfügung. Oder etwa nicht? Tatsächlich sind die Zahlen der größten Anbieter beeindruckend – 40 Millionen Songs soll man laut aktuellen Angaben auf Amazon Prime Music und Deezer abrufen können, 50 Millionen auf Spotify und Apple Music. Tidal protzt sogar mit 60 Millionen. Doch ist das nur ein Teil dessen, was in der Musikgeschichte aufgenommen wurde. Eine konservative Schätzung benennt die Gesamtzahl aller aufgenommen Tracks auf knapp unter 100 Millionen. Dabei wird aber ausgeblendet, dass die meisten Aufnahmen noch längst nicht digitalisiert sind und somit in den Berechnungen überhaupt nicht berücksichtigt werden. Das Potenzial von Streaming, so wird immer deutlicher, haben wir bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.

Manche wollen das so nicht akzeptieren. Die brasilianische Sammler-Legende Zero Freitas kauft weltweit Bestände alter und obskurer LPs auf. Freitas gibt selbst zu, dass das inzwischen eine Obsession und Sucht ist, und sein Psychologe hat inzwischen die Hoffnung aufgegeben, den Gründen dafür jemals auf die Schliche zu kommen. Sorgen um seine finanzielle Sicherheit muss man sich aber nach aktuellem Stand nicht machen. Seinem Busunternehmen geht es vorzüglich und gebrauchte Schallplatten sind billig. So geht die Kollektion in die Millionen und enthält unter anderem einige ihrerseits berühmte, umfangreiche Sammlungen anderer Super-Sammler. Freitas geht es darum, ein Denkmal gegen die Gleichgültigkeit zu setzen, mit der Viele heute der Musik und Vinyl als Kulturprodukt begegnen. Das ist lobenswert, weitaus interessanter aber ist: Experten gehen davon aus, dass gerade einmal 20% der hier zusammengetragenen Musik in digitaler Form vorliegt. Und Freitas beschränkt sich weitestgehend auf den westlichen Markt – in Indien und China dürfte die Digitalisierungsrate sogar noch niedriger liegen. So verblasst das Angebot der Streaming-Dienste gegenüber dem Gesamtbestand an aufgenommener Musik zunehmend. Zwar hat Freitas mit der Digitalisierung begonnen. Doch wenn schon wieder ein Lastwagen mit neuen Platten vorfährt, sehen sich seine Mitarbeiter nur noch vielsagend an. Diese Aufgabe, das wissen sie, werden sie niemals beenden können.

Störende Leere

Klar kommt es schon einmal vor, dass man einen Song oder ein Album einer Künstlerin auf Spotify nicht findet, dass auf Tidal manche Bands überhaupt nicht vertreten sind. Meistens aber nehmen wir das mit einem Achselzucken zur Kenntnis. Wie störend das wirklich sein kann, fanden Mainstream-Hörer zum ersten Mal 2014 heraus, dem Jahr, in dem Taylor Swift ihren gesamten Katalog in einer Nacht-und-Nebelaktion von Spotify abzog. Auf anderen Netzwerken, die laut Swift fairere Konditionen boten, war ihre Musik weiterhin vertreten. Damit stand die Musik des größten Popstars ihrer Generation, den Mitgliedern des mitgliederstärksten Streaming-Dienstes nicht mehr zur Verfügung – ein Politikum in einer ohnehin politisch aufgeheizten Zeit für die Branche. 2015 folgte Adele ihrem Beispiel: Ihr drittes Album „25“ war zu Veröffentlichung ausschließlich als physischer Tonträger erhältlich. Der britischen Sängerin ging es nach eigenem Verlauten darum, Musik wieder zu einem Event zu machen. Ihr Buchhalter wird sich indes über ihren „Idealismus“ nicht beschwert haben: Vor allem auch dank der Anti-Streaming-Strategie brach das Album nahezu alle Verkaufsrekorde in einer Ära, in der die meisten CDs und LPs bereits abgeschrieben haben.

Inzwischen haben sich Taylor Swift und Spotify längst geeinigt, ebenso ist „25“ im Angebot aller Streaming-Majors. Auch sind die meisten „Dinos“ - Solo-Musikerinnen und Gruppen aus den „goldenen“ 70ern und 80ern, denen die Kostenlos-Kultur der Gegenwart eigentlich zuwider ist – inzwischen nachgezogen. So muss nahezu keiner mehr auf die Lieder von Led Zeppelin, AC/DC und den Beatles verzichten. Prince, der zu seinen Lebzeiten das Internet bereits für tot erklärt hatte, und Gegner der digitalen Verwertungskette war, tat posthum auch den Schritt in die Arme der Streaming-Dienste: Alle 8 CDs der Super-Deluxe-Edition seines Klassikers „Sign O' the Times“ können gestreamt werden. Ebenso sind die Kritiker der Indie-Fraktion, darunter wegweisende Bands wie die Progressive-Metal-Vorreiter Tool oder die feministischen Punks von Bikini Kill, von ihrem hohen Ross abgestiegen und haben sich der Mehrheit gefügt. Sogar Jay Z, der seine Musik lange exklusiv auf seiner eigenen Plattform Tidal zur Schau stellte, kam schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Politik der Öffnung lukrativer ist. Die wenigen Ausnahmen, darunter die Folk-Magierin Joanna Newsom, die zwar ein Spotify-Konto besitzt, dort aber nur einen einzigen Song zum Streaming anbietet, werden immer mehr zu Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Im Underground sieht es ein wenig differenzierter aus. In einigen Bereichen der Ambient- und Sound-Art-Community werden neue Alben eher selten auf den großen Plattformen eingestellt, wobei man sie in der Regel auf Bandcamp findet. Trotzdem belegen diese Nischenveröffentlichungen, dass sich auch noch außerhalb der abgegrenzten Mauern der Streaming-Dienste noch reichlich Entdeckungen machen lassen. Sogar, wenn man einmal von dem Plattenberg absieht, den Zero Freitas in Brasilien anhäuft, klaffen in der Versorgungskette Lücken. Gerade im erweiterten Geltungsbereich elektronischer Musik bilden solche Alben ein Problem, bei denen die Rechte für die eingesetzten Samples nicht oder nicht ausreichend geklärt wurden. Darunter fallen viele frühe Hip-Hop-Veröffentlichungen, wie zum Beispiel die De-La-Soul-Meisterwerke „3 Feet High and Rising“ und „De La Soul is Dead“, aber auch Mix-CDs und Elektronik-Scheiben aus den frühen 90ern, in denen die Rechtslage noch einem Wilden Westen glich. Ein Großteil der in den 80ern so beliebten 12inch Mixe verharrt ebenfalls in den Archiven und wartet darauf, freigesetzt zu werden. Gleiches gilt für Remixe aus den 90ern, gerade im House eine wahre Fundgrube: Die über 500 Remixe des puerto-ricanischen Genies David Morales und die tausende von Remixen der ultraproduktiven Masters at Work sind nur die Spitze des Eisbergs. Auch einige Mixtapes, bei denen spezielle Webseiten wie Datpiff der einzige Verbreitungskanal sind, bleiben Streaming-Hörern vorenthalten. „LiveLoveA$AP“, das fantastische Debüt des Rappers A$ap Rocky zum Beispiel, lässt sich zwar umsonst downloaden, aber nicht über Spotify streamen.

Es gibt kein „zuviel“.

Nun könnte man argumentieren, dass es ohnehin deutlich mehr Musik gibt, als man in diesem Leben jemals hören könnte. Doch nur Naive oder vollkommen Musikdesinteressierte können so argumentieren. Gerade für Sammler besteht einer der größten Reize darin, das zu finden, was anderen verborgen bleibt; das zu besitzen, was sonst kaum jemand hat; das zu favorisieren, von dessen Existenz Normalsterbliche nicht einmal ahnen. Tippe ich bei Spotify beispielsweise „David Morales“ ein, erhalte ich eine schier endlose Liste an Tracks. Doch weiß ich genau: Es gibt da draußen immer noch weitaus mehr. Seltsamerweise ist die Jagd nach den verborgenen Schätzen spannender als sich einfach in Ruhe auf das Sofa zu setzen und dem zu lauschen, was bequem zu bekommen wäre.

Remaster sind ein weiterer wunder Punkt. Von einigen Alben sind im Laufe der Jahre viele verschiedene Versionen erschienen, teilweise mit eklatanten Qualitäts- und Klangunterschieden. In der Regel aber steht sogar bezahlenden Kunden auf Tidal oder Spotify jeweils nur der aktuellste Stand zur Verfügung. Eine Ausnahme bildet auch hier Prince, bei dem sowohl der originale 1987-Mix von „Sign O' the Times“ als auch der neue Remaster der Legende Bernie Grundman, als Stream angeboten werden. Wer aber beispielsweise die ursprünglichen deutschen Abmischungen der Kraftwerk-Klassiker sucht, wird bei Apple Music ebenso wenig fündig wie bei Amazon oder Deezer. Es ist nicht ganz abwegig, davon auszugehen, dass die Labels hier nachbessern werden. Zwar interessiert sich die durchschnittliche Hörerin denkbar wenig dafür, ob von Miles Davis' „Kind of Blue“ die erste CD-Ausgabe, der 1996er oder 1997er CD-Remaster, den SACD-Mix oder die unzähligen Vinyl-Remaster optimal sind. Doch gibt es mehr als nur eine handvoll Musik-Freaks, denen der Zugang zu diesen Varianten sehr viel Geld wert wäre.

Der physische Markt brummt.

Augenblicklich aber existiert diese Option noch nicht. Und das ist eine hervorragende Nachricht für die kleinen Plattenläden, Online-Händler und Vermittlungswebseiten, auf denen gebrauchte CDs und LPs feilgeboten werden. Die mit Abstand größte von ihnen ist Discogs. Auf der 2000 gegründeten Seite mit einer halben Million registrierter Mitglieder findet sich eine bunte Welt der Musik, einschließlich vieler Veröffentlichungen, die sich nicht konventionell streamen lassen. Zugegeben, auch die Discogs-Datenbank ist nicht vollständig. Doch wird sie immerhin täglich geupdatet und das nicht nur bei den großen kommerziellen Projekten, sondern auch bei unzähligen kleinen Labels und Künstler/innen, die nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

Discogs funktioniert jedoch nicht nur als Nachschlagewerk, sondern auch als Marktplatz. Für einen aufschlussreichen Artikel des Wirtschafts- und Management-Magazins Forbes legten Discogs und eBay ihre Verkaufszahlen für gebrauchtes Vinyl offen. Dabei traten spannende Ergebnisse zutage. Ganz offensichtlich ist der Gesamtmarkt für Tonträger weitaus größer, als gemeinhin suggeriert wird – und das, obwohl diese Analyse gezielt alle Alben ausschloss, deren Zustand als neu oder neuwertig ausgewiesen wurde. Addiert man alle Zahlen zusammen und ergänzt sie schließlich noch um die Werte für neue Tonträger, erhält man Verkäufe, die weit über dem liegen, was gemeinhin in den Medien genannt wird. Dabei sind in dieser Studie die vielen kleinen Plattenläden und Flohmarktstände nicht einmal berücksichtigt, bei denen Experten davon ausgehen, dass sie den Großteil aller Transaktionen ausmachen. Abseits der Streaming-Allmacht, also boomt der Markt für Musik.

Ob es in einigen Jahren eine vergleichbare Renaissance der CD geben wird, steht zwar in den Sternen. Fest steht aber, dass beide Formate, CD und LP für Ängstliche und Verschwörungstheoretiker einen Hafen der Sicherheit bieten. Wer schützt mich davor, dass Spotify sich unter Druck der Labels dazu entschließt, bestimmte Musik wie bei Video-Streamern üblich, vorübergehend aus ihrem Angebot zu entfernen? Den aktuellen, großartigen Mix meines Lieblingsalbums mit einem neuen, lauteren, unattraktiveren zu ersetzen? All meine Playlists zu löschen, wenn ich mein Abo kündige oder gar mit sich ins Grab zu nehmen, wenn das Unternehmen Insolvenz anmelden muss? Im Gegensatz dazu bieten CD und LP Stabilität und Sicherheit, wenn man einmal von der unvermeidbaren Vergänglichkeit und Abnutzung jedes physischen Tonträgers einmal absieht.

Nein, die schöne neue Streaming-Welt ist noch weit entfernt von dem Ideal Alexandrias. Aber: Dass eines Tages jemand dem Vinyl-Abhängigen Zero Freitas dabei helfen wird, seine Berge an LPs zu digitalisieren und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, steht, im Grunde genommen, fest. Dann wiederum wären wir der Utopie einer Universalbibliothek deutlich näher gekommen. Überhaupt ist es zwar ein amüsanter Zeitvertreib, bei Tidal & Co nach fehlenden Einträgen zu suchen oder auf Discogs nach vergessenen Meisterwerken zu fahnden. Der Regelfall aber sieht anders aus: Die Mehrzahl der aktuellen Musik wird schon lange vorwiegend digital veröffentlicht, ohne physischen Tonträger. Für viele Hip-Hop-Künstler ist die CD oder sogar das Vinyl höchstens ein netter Nebengedanke, den man als kleines Geschenk und Dankeschön für die treusten Fans herausbringt. Die Musik der Gegenwart, sie lagert ausschließlich auf den Servern der Streaming-Giganten – und man kann nur hoffen, dass sie nicht an einem rabenschwarzen Tag einer Feuersbrunst oder einem Akt blinden Vandalismus zum Opfer fällt.

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