Ratgeber

YouTube-Unterhaltung à la Mark Rebillet: Nervtötend genial!

Bis in alle Ewigkeit Alben und Singles veröffentlichen, durch die Clubs tingeln und sich mit Streaming ein mageres Einkommen verdienen? Für einige Kreative klingt das schon lange nicht mehr wie ein attraktives Lebensmodell. Auf Youtube entwickeln sie neue Formate und gewinnen mehr Fans als so manche gestandene Musiker – das ist verblüffend und inspirierend zugleich.

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Denken wir an Social-Media-Stars, dann zumeist an Bilder von Model-Typen – braun gebrannt, leicht bekleidet, ein strahlend weißes Lächeln auf dem gephotoshoppten Gesicht. Diesem Idealtypus entspricht Mark Rebillet gewiss nicht. Seine Auftritte bestreitet er bevorzugt in einem knapp geschnittenen Seidenbademantel und spitz zulaufenden Krokodillederschuhen, manchmal auch ausschließend in Boxershorts. Wenn er sich mit Keyboard, Drum Machine und Looping-Laptop in Extase grooved, rotiert sein Kopf auf dem scheinbar viel zu dünnen Hals wie bei einer Schildkröte, sodass man darum bangt, er könne ihm herunterfallen. Seine Videos tragen Titel wie „Bisexual Jesus“, „Oh god, this asshole again“ oder "I made a song about my favorite thing." Dennoch ist Rebillet nach jeder erdenklichen Definition ein Star. Sein Youtube-Kanal hat 1,5 Millionen Abonnenten, sein Facebook-Profil über 2 Millionen Fans (drei Mal so viel wie zum Beispiel Jean-Michel Jarre), sein Dauerbrenner „How to funk in two minutes“ hat fast 10 Millionen Views. Inzwischen gibt es Podcasts über ihn, Interviews mit ihm, Reaktionsvideos auf seine Songs und als Clickbait angelegte Hass-Videos. Rebillet ist ein Phänomen – und Teil einer neuen Generation von Musikern, Produzenten und Fans, die sich mit innovativen Konzepten ganz individuelle Nischen in der scheinbar abgegrasten Industrie einrichten.

Unerklärlich

Es wird sicherlich schon sehr bald viele geben, die Rebillet kopieren oder erklären wollen. Das kann nur misslingen. Denn Rebillet ist ein Unikat und, auf seine ganz eigene und gelegentlich auch nervtötende Weise, ein kleines Genie. Man kann seinen Erfolg zwar nachvollziehen. Allgemeingültige Formeln und Schlüsse lassen sich daraus aber kaum ziehen. Jahrelang ist der Frankoamerikaner von Restaurant/Cafe/Kneipe zu Restaurant/Cafe/Kneipe getingelt und hat dort seine Fusion aus Stand-Up Comedy, Slapstick, Live-Looping, gut gelauntem Wahnsinn und schweißtreibenden Beats verfeinert. Viele dieser frühen Shows finden sich, bescheiden aber effektiv mit einer einzigen Kamera gefilmt, im Netz und es ist bemerkenswert, wie Rebillet über zwei bis drei Stunden jede Location in einen Hexenkessel und jede noch so unwillige Hörerschaft in eine devote Gruppe ausgelassenen Fans verwandelt. In diesen Shows ist, von der Musik über die Texte bis hin zu den humoristischen Einlagen, alles improvisiert. Das Publikum wird zum Komplizen, mit dem er plaudert und sich scherzhaft streitet, dessen Reaktionen er blitzschnell in seine Sketeche integriert, auf dessen kleinste Regung er mit einem musikalischen Hakenschlag antwortet. Wer Zeit und Muße hat, sich online durch seine Shows zu klicken, wird kaum Wiederholungen, dafür aber die atemberaubende Produktivität eines Mannes vorfinden, der sein Konzept einmal wie folgt beschrieben hat: „Sogar wenn dir keiner zuschaut – ganz besonders, wenn dir keiner zuschaut - musst du Inhalte schaffen, die sich die Leute irgendwann einmal angucken können.“ 

Die Macht der Melone

In einer neuen Video-Reihe (Stichwort: „Dumb Frenchman recommends music!“) gibt Rebillet nun auch Musik-Empfehlungen ab, die ihn in einer etwas seriöseren Stimmung zeigen. Diese plötzliche Wandlung vom Sexy-Soul-Monster zum Rezensenten mag verwundern, ganz so abwegig aber ist sie dann doch nicht. Denn es gehört bei Rebillet und Kollegen geradezu zum guten Ton, ständig die Seiten zu wechseln und die unterschiedlichsten Aktivitäten immer wieder miteinander zu verquirlen. Sein Freund, der Video-Blogger Anthony Fantano, besser bekannt über seinem Projekt „The Needle Drop“, ist dafür ein gutes Beispiel. Der Mann mit der Glatze und den überdimensionierten runden Brillengläsern, der von seinen Fans und Feinden aufgrund seiner fehlenden Haarpracht ebenso liebevoll wie respektlos „Melone“ genannt wird, darf sich heute mit gutem Gewissen als der einflussreichste Musikjournalist in und außerhalb des Netzes bezeichnen. Platten, die er bespricht, werden gehört, positive Bewertungen können einer Band den Durchbruch bescheren. Es ist bezeichnend, dass manche Linkin-Park-Anhänger es für realistisch hielten, dass die vernichtende Needle-Drop-Rezension des tragischen Abschiedswerks „One More Light“ dafür verantwortlich war, dass sich Frontmann Chester Bennington das Leben nahm. Das ist eine erstaunliche Machtposition, weil Fantano sich mit wenigen Ausnahmen nicht für Mainstream-Künstler interessiert und seine Videos, obwohl professionell redigiert, mit ähnlich minimalistischem Equipment realisiert werden wie Rebillets. Eine Nahaufame des Rezensenten, das Cover des Albums und der gut gefüllte Plattenschrank im Hintergrund - mehr braucht es nicht, damit pro Rezension bis zu 300.000 Leute „einschalten“.

Man kann seine Rezensionen, die teilweise quälend lang sind, mögen oder nicht – der Erfolg von The Needle Drop, das inzwischen einen gut bezahlten Vollzeitjob darstellt, ist verdient. Denn Fantano hat Youtube so tief begriffen, wie nur wenige andere. Neben seinem Review-Kanal betreibt er noch zwei weitere, von denen der unter seinem Familiennamen „Fantano“ laufende der vielleicht smarteste ist. Hier lädt er seine Social-Media-Anhängerschaft dazu ein, ihm die ihrer Meinung nach schlechtesten Texte oder Bandnamen zu schicken, die er dann in seinen Videos genüsslich seziert. Parallel durchläuft er die Diskographien von Radiohead oder Björk, von den besten Werken bis hin zu den schlechtesten, diskutiert warum es gut ist, dass sich Daft Punk aufgelöst haben, stellt die Alben vor, mit denen man sich als Einsteiger „Synthie-Pop“, „Death Metal“ oder „Ambient“ nähern kann. In der Frühphase von The Needle Drop gab es noch mehr Comedy. Dieser Anteil ist inzwischen deutlich geschrumpft. Dafür findet sich zwischen all dem Gerede ein nicht einmal vier Minuten kurzes Video, in dem Fantano am Bass mit Rebillet jammt – eine kleine Perle. Diese Features helfen Fantano dabei, die Nase gegenüber der Konkurrenz vorn zu behalten. Das muss er auch, weil sich inzwischen unzählige Konkurrenten mit nahezu identischen Kanälen und einer überlappenden Musikauswahl um die Gunst der Zuschauer bemühen: „Ganz offensichtlich ist eine Menge von dem, was man heute auf diesem Gebiet findet, stark an meine Ästhetik, meinen Stil und meinen Vortrag angelehnt“, weiß er selbst.

Das Wissen hinter den Hits

Wem all das zu albern, abwegig und abstrus ist, wird vielleicht bei Rick Beato (sprich: Biato) fündig. Der Produzent, Engineer und Gitarist nutzt seinen Quasi-Ruhestand, um einer wissbegierigen Zuschauerschaft die musiktheoretischen Hintergründe aktueller und vergangener Hits nahe zu bringen. Man sollte meinen, dass es dafür wohl kaum ein gesteigertes Interesse geben sollte. Doch als sich eine Zeit lang die Plagiatsvorwürfe gegen aktuelle Songwriter häuften, waren geschulte Musiker wie Beato, die anhand konkreter Notenbeispiele und aufgrund ihrer geballten Erfahrung in der Industrie fundierte Aussagen treffen konnten, plötzlich gefragt. Das Video, in dem Beato ruhig erklärt, warum die Gerichtsentscheidung zu dem Song „Blurred Lines“ von Robin Thicke and Pharrell Williams ein Fehler war, war ein angenehmer Sieg der Vernunft in einer hoch erhitzen Situation. Aber auch, wenn Beato spürbar gerne Theorie vermittelt und einen Teil seiner Einnahmen über ein teures PDF-Buch generiert, ist er doch nicht zuallererst Lehrer, sondern leidenschaftlicher Hörer. In regelmäßigen Abständen geht er vor laufender Kamera die aktuelle Spotify-Top-10 durch und teilt sein Feedback als Produzent. Dabei findet er in nahezu jedem Song etwas zu loben, fokussiert darauf, was die Tracks ausmacht und vermittelt so ein Gefühl für die Qualitäten heutiger Produzenten. Der eigentliche Renner aber auf seinem Kanal ist eine Reihe namens „Why this song is great“. Dafür wühlt er in der Musikgeschichte nach seinen persönlichen Favoriten und geht anhand der Multitracks durch, was diese Klassiker zu Klassikern macht. Das klingt pedantisch, wirkt manchmal auch ein wenig so, ist aber zugleich für Musik-Fanatiker nahezu unwiderstehlich und süchtigmachend.

Rebillet, Fontano und Beato sind nicht einmal die größten Fische im Youtube-Teich. Der Schwede Seth Everman schlägt in eine ähnliche Kerbe und erreicht damit ein noch einmal weitaus größeres Publikum – vielleicht auch, weil Videos wie „How to create Billie Eilish's "Bad Guy"“, in dem er den Hit mit Sofakissen, Spülschrubbern, seinen Fingerspitzen und einem alten Yamaha-Keyboard nachbaut, noch eine Ecke derber und plakativer daherkommen. Doch macht ihr Erfolg Hoffnung, zeigt er doch Möglichkeiten auf, außerhalb der altbekannten Formate wie Album und Konzert der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. Rebillet als großartigen Musiker zu bezeichnen ist eigentlich eine Untertreibung. Dennoch ist es eher unwahrscheinlich, dass er jemals auch nur einen einzigen Song schreibt, der außerhalb seiner Performances gespielt werden wird. Und Rick Beato wird man eher für seine Aufklärungsversuche in Sachen Harmonie und Songwriting im Gedächtnis behalten als für seine Studioproduktionen – und das, obwohl er mit dem Song „Carolina“ bereits einen Millionenseller verfasst hat. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum diese drei Youtuber auf solch regen Zuspruch (oder zumindest hochinteressierte Ablehnung stoßen). Zum einen bieten ihre Kanäle Stütz- und Fixpunkte in einer Musikwelt, die genau solche Stütz- und Fixpunkte dringender benötigt denn je. Fantano & Beato definieren durch ihre Aktivitäten, was es Wert ist, Teil des Kanons zu sein, was es Wert ist, gehört und diskutiert zu werden. Sie nutzen die Tendenz des Netzes zur Hyperspezialisierung, um Mainstream-kompatible Inhalte auf eine spannende Weise neu zu präsentieren und tiefer in sie einzusteigen, als man es sich je hätte vorstellen können. In der Summe entsteht daraus eine neue Art alternativer Mainstream, eine Basis für gemeinsames Erleben, wie sie es zuletzt vielleicht nur die Generation Golf gekannt hat. In gewisser Weise ist eine Binge-Nacht mit Mark Rebillet das, was für uns oder unsere Eltern der Samstag-Abend mit Thomas Gottschalk war – viele Tausend andere machen es gerade ganz gewiss genauso.

Vor allem aber führen diese Formate alles auf eine zentrale Erkenntnis zurück: Letzten Endes ist Musik Unterhaltung, darf bei allem angebrachten Ernst sexy, albern oder total sinnfrei sein. Sie muss nicht zwangsläufig einem Zweck dienen, keinen genialen Erkenntnisgewinn liefern, keine Probleme lösen, außer vielleicht dem, die eigene Langeweile für ein paar Minuten zu lindern. Das wird nicht jedem Bildungsbürger schmecken, das wird auch nicht jedem schmecken, der die genannten Stars eher für kurzlebige Phänomene als echte Künstler hält. Als Gegengewicht zur oberflächlich-hohlen Influencerschaft wirkt ihr Beitrag aber auf jeden Fall wie ein frischer Wind.

marcrebillet.com

theneedledrop.com

rickbeato.com

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