News

Musik: Der Strom der Revolution

Statistiken deuten an, dass das Ende der Musikpiraterie kurz bevorsteht. Doch ist das tatsächlich eine frohe Botschaft? Während sich Streaming zum neuen Standard aufschwingt, entgleitet den Kreativen immer mehr die finanzielle Kontrolle über ihr Werk. Ist eine zweite Umwälzung der einzige Ausweg?

Gunter Thielen ist zuversichtlich. Als Vorstandvorsitzender von Bertelsmann ist er täglich mit dem Thema Musikpiraterie konfrontiert, muss sich mit den Befürwortern der Free-Kultur auseinandersetzen und dem Auseinanderfallen eines stolzen Medienkonglomerats entgegen stemmen. Nun aber könne er endlich das Licht am Ende des Tunnels erkennen, wie die Online-Site Shortnews zu berichten weiß. So sei Thielen davon überzeugt, dass „mit Hilfe neuer Technologien dem illegalen Musiktausch im Internet schon bald ein Ende gesetzt werden kann.“ Seiner Aussage nach habe man das Problem in ein bis zwei Jahren unter Kontrolle.

Linktipp – Pono Music: Tragbarer Musik-Player für Audiophile

Damit liegt Thielen möglicherweise tatsächlich nicht völlig daneben. Zumindest aus heutiger Sicht – denn die Meldung stammt aus dem Jahr 2004 und die Musikindustrie wie man sie einst kannte, ist inzwischen völlig der Kontrolle Bertelsmanns und den einstmals sogenannten Majors entglitten. Inzwischen aber häufen sich die Zeichen, dass Thielens damalige zweigleisige Strategie aus legalen Angeboten und fortgeschrittenen Kontrollmechanismen Früchte zu tragen scheint. 2015 jährt sich der zwanzigste Geburtstag von MP3 – sollte sich der „böse Spuk“ bis dahin tatsächlich verflüchtigt haben?

Plattenverschiebungen

Zwei aktuelle Studien auf beiden Seiten des Atlantiks scheinen dies zumindest nahe zu legen. In den USA hatte sich ergeben, dass das Volumen illegaler Downloads in 2012 ganze 26% unter dem Niveau von 2011 lag und dass fast 40% der Befragten angeblich der Piraterie gänzlich entsagt hätten. In Europa wiederum kam man zu dem Schluss, dass Piraterie den Verkauf legaler Downloads nicht signifikant beeinflusst. Nahezu gleichzeitig treffen scheinbar hoffnungsfrohe Botschaften aus Skandinavien ein. Sowohl in Norwegen als auch Schweden, Heimatland und Hochburg von Spotify, hatten die Umsätze der Musikindustrie sowohl in 2011 und 2012 bemerkenswerte Zuwächse verzeichnen können – nach einem Jahrzehnt des Abstiegs und Verfalls.

In Wahrheit aber tragen all diese Zahlen bei genauerer Betrachtung eher zur Verwirrung als Klärung bei. Denn während sich in den USA Copyright-Verletzungen im Musikbereich offenbar tatsächlich auf dem Rückmarsch befinden, nehmen sie auf weltweiter Ebene sogar weiter zu. Die norwegischen und schwedischen Zuwächse sind praktisch komplett auf steigende Einnahmen aus dem Streaming-Bereich zurückzuführen – will heißen: auf die Mitgliedschaftsbeiträge von Spotify-Premium-Kunden.

Linktipp – Pono Music: Kickstarter Projekt übertrifft alle Erwartungen

Der Verkauf von Downloads und physischen Tonträgern, noch immer den wohl einzigen Medien, die Künstlern ein nennenswertes Einkommen versprechen, fällt hingegen weiter. Bewegen wir uns also auf ein Happy-End oder eine Vertiefung der Krise zu? Diese Frage erscheint angesichts der Datenlage ungeklärter denn je.

Die europäische Studie indes deutete zumindest ansatzweise die Mechanismen an, die sich hinter den plattentektonischen Verschiebungen unter der Oberfläche vollziehen. So ermittelte man, dass sowohl Piraterie als auch Streaming einen letztendlich positiven Einfluss auf den Umsatz digitaler Musikeinkünfte hätten. Doch ist dieser Effekt bei digitalen Downloads dreimal so groß wie beim Streaming: Ein zehnprozentiger Anstieg an Clicks auf illegale Downloads führt zu einem zweiprozentigen Anstieg bei legalen Angeboten, während ein zehnprozentiger Anstieg in der Hörzeit bei Streamingdiensten nur zu einem 0,7%igen Anstieg an Umsätzen führt.

Das bedeutet kurz zusammengefasst, dass Streaming andere Medien schlicht kannibalisiert und führt zu einer paradoxen Schlussfolgerung: Piraterie ist auf dem Papier der Feind, führt aber in der Praxis zu mehr Umsätzen. Streaming ist angeblich der Freund, führt aber zu geringeren Umsätzen.

Den Grund dafür lassen die Studienerheber zwar offen, doch kann man ihn sich mit etwas Fantasie ausmalen: Während Downloads nur den Kauf, aber noch nicht den Konsum der Musik beinhalten, gehen Cloud-Hörer ganz im Netzwerk auf. Zeit ist die eigentlich knappe Ressource in der Gleichung und Spofity & Co brauchen sie ganz und gar auf. Wer will und kann danach noch für Musik bezahlen? Das Ende der Piraterie mag somit zwar tatsächlich kurz bevorstehen. Doch ob man das als gute Nachricht verbucht, ist eine ganz andere Sache.

Streaming bestimmend

Fest steht immerhin, dass Streaming auf dem besten Weg ist, sich zu der bestimmenden Distributionsform der neuen Musikindustrie zu entwickeln. Damit rückt es immer stärker in den Fokus derer, die das Konzept von Anfang an heftigst kritisiert haben. Die Debatte, ob Streaming-Dienstleister den Künstlern genug Geld pro Strom auszahlen, ist dabei fast schon eine Nebenbaustelle.

Denn tatsächlich schüttet beispielsweise Spotify deutlich mehr aus, als man gemeinhin vermutet: 70% gehen an die Rechteinhaber. Das eigentliche Problem von Streaming besteht in seiner überproportionalen Bevorzugung des Back-Kataloges gegenüber aktuellen Veröffentlichungen. Angesichts der überwältigenden Menge an Musik, die in den Archiven der Streaming-Giganten verfügbar ist, greifen Nutzer immer mehr auf das zurück, was sie kennen. Weil sie sich dieser Tatsache wohl bewusst sind, haben die Labels für ihre „klassischen“ Alben deutlich bessere Bedingungen ausgehandelt als es kleine, unabhängige Labels für ihre aufstrebenden und noch unbekannten Bands jemals könnten.

Was die paradoxe und leicht perverse Situation geschaffen hat, dass die Veröffentlichungen bereits toter Musiker einen höheren Tantiemenfluss generieren als die von noch lebenden. Ein solches System führt ganz inherent auf Dauer zu einer gefährlichen Schieflage, weswegen beispielsweise jemand wie der einstmalige Musik-Internetpionier Thom Yorke von Radiohead Teile seiner Musik aus Protest bereits wieder von Spofity hat entfernen lassen.

Es ist nicht die einzige Schieflage, welche Streaming verursacht. Denn Gewinne fahren die Anbieter damit bis heute nicht ein. Spotify-Gründer Daniel Ek verortet Profitabilität sogar unter ferner liefen und platziert stattdessen Wachstum auf die ersten fünf Plätze seiner Prioritätenliste. Gleiches gilt für den nur in den USA operierenden Konkurrenten Pandora, dessen Gründer Tim Westergren Millionenumsätze mit dem Verkauf der Firmenaktien einstreicht, während sein Unternehmen immer tiefer in die roten Zahlen rutscht.

Die Vorstellung, diese Firmen könnten auch nur im Entferntesten an einer Verbesserung der finanziellen Situation derjenigen interessiert sein, welche ihnen die Inhalte liefern, die den Motor ihrer rasanten Expansionspläne in Gang halten, ist schlicht und ergreifend naiv. Manche gehen sogar noch weiter und sehen die Musikindustrie der Zukunft als eine Art Subventionsgeschäft, bei dem Technologieunternehmen das verlustbringende Streaming als Aushängeschild für gewinnbringende Dienstleistungen und High-Tech-Produkte verwenden.

Damit verkäme Musik tatsächlich zum reinen Marketinginstrument, zur Belustigung der digitalen Computerindustrie, zur Randnotiz. Eine überzogene Wahnvorstellung? Der Kopfhörerproduzent Beats, dessen jährlicher Umsatz von 1,4 Milliarden US-Dollar so manchen ehemaligen Major in die Schranken weist, plant bereits sein eigenes Streaming-Portal.

Radikale Alternativen

An diesen Umwälzungen lässt sich, alleine schon aufgrund der damit verbundenen monetären Ströme, über den Markt wohl eher wenig ändern. Doch fangen inzwischen immer mehr Musiker damit an, über eine radikal neue Zukunft nachzudenken, in der ein globales, dezentrales, interagierendes Netzwerk aus Kreativen und eine radikale Realisierung des Free-Gedankens die Freiheit schaffen, von der die Pioniere des Internets immer geträumt haben.

Der Psychedelic-Folk-Barde Damon Krukowski ist einer ihrer Vordenker. Krukowski hat erkannt, dass die Zukunft der Industrie von Firmen gelenkt wird, die mit Musik nichts am Hut haben. Die Zusammenarbeit zwischen den maximal hierarchisch aufgebauten Majors und der Computer-Industrie funktioniere schon sehr gut. Was aber noch fehle, seien Musiker und Fans. „Irgendwie“, so Krukowski, „werden wir immer wieder ausgeschlossen.“ Leider gebe es starke und gefestigte Interessen, welche sich dieser Einmischung offen widersetzen.

Den Ausweg aus dem Dilemma bilde eine grundlegende Einsicht: dass Spotify und Co eigentlich gar nicht die Verfügungsgewalt über die riesigen Musikmengen in ihren Archiven besitzen. Krukowski weist darauf hin, dass in den frühen Jahren der Musikindustrie Gerichte zu dem Schluss kamen, dass man eine Performance nicht „copyrighten“ könne, da es sich dabei letztendlich um Schwingungen in der Luft handele – und wer könne schon die Luft mit einem Copyright belegen?

„Spotify, Pandora, Apple und der ganze Rest setzen alles daran uns glauben zu lassen, dass sie diesen Stream besitzen, genau wie die Plattenfirmen, die einst alle möglichen kleinen Teile eines Albums unter Copyright nahmen“, so Krukowski. „In Wahrheit tun sie das aber gar nicht. Sie besitzen lediglich den Vertriebskanal, nicht die eigentliche Musik. Wenn wir die grundlegende Wahrheit erkennen, dass niemand einen Stream besitzen kann, ebenso wie man nicht die Luft um uns herum besitzen kann, dann haben wir bereits einen soliden Ausgangspunkt dafür, wie wir diejenigen kompensieren können, die Teil des Aufnahmeprozesses sind.“

Krukowskis Vision besteht darin, dass Musik über ein System ähnlich wie Youtube frei fließen kann – in unterschiedlichsten Qualitätsstufen und ohne Einschränkungen. Geld könne man damit zwar nicht machen. Doch wer kann das schon in der heutigen Situation? Aus der ungezügelten Kreativität hingegen könnten letztendlich neue, Erfolg verheißende Geschäftsideen entstehen – Modelle, von denen wir heute nicht einmal zu träumen wagten. Das mag zwar etwas vage klingen. Doch erfolgversprechender als so manche Prognose auf den Führungsetagen vermeintlicher Marktführer ist es allemal.

Mehr zum Thema
zur Startseite